So ein bisschen fühlte Erissa sich wie eine Babysitterin, wie sie da saß, als einzige Frau an Deck des riesigen Segelschiffes und die Männer aufmerksam im Auge behielt. Ardent Rose und ihr Begleiter hatten sich noch auf den Weg zu einer Person gemacht, von welcher sie nicht verraten hatten, um wen es sich dabei handelte, aber sie hatten ihr die Aufsicht über das Schiff überlassen. Und das wollte wohl etwas heißen. Damit konnte Erissa beweisen, dass man ihr vertrauen konnte. Obwohl sie tatsächlich kurzfristig mit dem Gedanken gespielt hatte, einfach die Crew dazu anzustacheln los zu segeln. Allerdings hatte sie nicht das Gefühl, dass diese Leute viel darauf geben würden. Die meisten waren mächtig zwielichtig und wirkten nicht, als würden sie Autorität wirklich allzu lange über sich ergehen lassen wollen. Mit diesen Kerlen sollte Ardent Rose sich ruhig herumärgern. Da Erissa selbst nicht viel Zeug bei sich gehabt hatte, als sie in die Stadt gekommen war, hatte es nun auch nichts gegeben, was sie großartig hätte einpacken müssen. Das war der Grund dafür gewesen, dass sie als erste am Schiff gewesen war und vermutlich hatte sie auch nur aus diesem Grund die Aufgabe bekommen, die Crew zu beaufsichtigen. Nun beobachtete sie einen der Männer, wie er über das Deck stolperte, zwei Kisten Pulver in den Armen und diese ihm aus den Händen glitten. Blitzschnell ließ sie mit einer Handbewegung einen kleinen Wirbelwind unter den Kisten entstehen, sodass sie nicht am Boden aufkamen, sondern vor dem verdutzt dreinblickenden Mann schwebten. „Pass doch auf!“, rief Erissa ungeduldig und schüttelte mit dem Kopf. Dann ließ sie die Kisten zurück in seine Arme schweben und machte eine abfällige Handbewegung. Es war eine gute Entscheidung des Kapitäns gewesen, sie mit der Aufsicht zu beauftragen.
Grey Eye und Aires betraten das Deck und ließen das Beiboot, von ihren Männern verstauen. Aires schien wieder guter Dinge zu sein, doch Grey Eye hielt noch vorsichtig nach größeren Wasserlachen Ausschau. Über die Jahre hatte er gelernt, dass Irabellas Vorrausagen in Getsalt aller möglicher Probleme eintreffen konnten. Die Phoenix II war wesentlich größer als die Major, das war zwar im ertsen Moment ungewohnt, aber es erinnerte ihn an die gute alte Zeit, vor diesem unglückseligen Zusammenstoß mit der Marine. Sie hatten wieder ein klares Ziel, einen klaren Plan und niemand würde sie aufhalten. Grey Eye spürte wie ihn eine große Euphorie überfiel, allein der Gedanke, er hätte auf Fertilis bleiben können, kam ihm nun lächerlich vor. Mit festen, beschwingten Schritten, folgte er Aires, die auf direkte Weise auf Erissa zusteuerte. Erissa gab ihren recht einfachen, aber scheinbar treffenden Bericht ab. Es schien so, als seien alle wichtigen Aufgaben erledigt worden, die Phoenix II war sauber, die Lager und die Quatiere eingeräumt. Doch gerade als sich Grey Eye zu einem Lächeln hinreißen lassen wollte, kam es hinter ihnen zu einem Streit zwischen zwei Männern. Er gipfelte in einem wilden Handgemenge, das endete, als einer der beiden schließlich umfiel. Leider stieß er ein anderes Crewmitglied an, das gerade das restliche Putzwasser in die See schütten wollte. Doch nun landete der Inhalt des Eimers stattdessen auf Grey Eye und Aires. Es schien so als wäre das prophezeite Unglück eingetraten. Er selbst war eher überrascht von der plötzlichen Nässe, aber Aires kochte vor Wut. Das würde Probleme geben.
Aires war schon fast ... glücklich gewesen, auf dem Schiff zu sein. Sie hatten einen perfekten Plan, sie hatten eine neue Phoenix, sie hatten eine brauchbare Crew und Erissa hatte sich als vertrauensvoll genug erwiesen, die Männer zu beaufsichtigen, ohne das Schiff ins Chaos zu stürzen - oder damit abzuhauen. Und jetzt das. Mit einem Schlag wich ihre gute Laune dem üblichen Zustand und sie blickte wutentbrannt zwischen den Männern hin und her, die für diesen Fauxpas verantwortlich waren.
Letztendlich heftete sie ihren Blick auf den mit dem Eimer, der sie und Grey Eye mit dem schmutzigen Wasser überschüttet hatte. Diese Dreistigkeit war schwer zu überbieten. "Tölpel", spie sie aus und machte zornig einen Schritt auf ihn zu. Er wich an die Reling zurück und ließ vor Schreck die Schüssel fallen. Er wollte ihr wohl beteuern, dass es nicht seine Schuld war, doch Aires packte ihn am Kragen und zerrte ihn zu sich heran, sodass er nur ein ersticktes Röcheln von sich gab. "Unfähiges Pack wie dich kann ich auf meinem Schiff nicht gebrauchen", zischte sie. Der Mann schaute sie kläglich an und wimmerte leise, als sie ihn rückwärts schob und noch fester gegen die Reling drückte.
Vielleicht war das eine ganz günstige Gelegenheit, ein Exempel zu statuieren. Die anderen würden danach wissen, woran sie waren. Sie hätten mit einem harschen Ton rechnen müssen, als sie sich ihrer Mannschaft anschlossen. Aires war immerhin nicht irgendein dahergelaufener Idiot, der sich Pirat schimpfte. Sie erwartete angemessenes Verhalten von ihrer Mannschaft. Ihr einen Eimer mit Schmutzwasser über die Klamotten zu kippen, war nicht angemessen. "Du darfst aussteigen." Bei diesen Worten stieß sie den Mann so heftig nach hinten, dass er das Gleichgewicht verlor und mit den Armen ruderte. Das nutzte sie, um ihm einen kräftigen Tritt über dem Körperschwerpunkt zu verpassen, sodass er endgültig nach hinten über kippte. Man hörte einen spitzen, recht weibischen Schrei und ein Platschen.
Während von unten panische Schreie, Bitten und das plätschende Geräusch von Waser ertönten, wandte Aires sich gelassen ab und gesellte sich zu Erissa. "Hier scheint doch alles in Ordnung zu sein." Sie schielte knapp zu einigen Männern, die mit offenen Mündern zu ihr herüber starrten, sich aber sofort in Bewegung setzten und fast übereinanderstolperten, um den Eimer ihres Kumpanen wegzuräumen.
Gerade als Erissa ihren kurzen Bericht darüber, dass alles für die Abfahrt bereit war, beendet hatte, geschah etwas, was sie zum einen urkomisch, zum anderen doch ein wenig beängstigend fand. Derselbe Mann, der vor Kurzem eine Kiste hatte fallen lassen, wurde von zwei sich prügelnden Herren hart getroffen, sodass ihm eine Schüssel voll schmutzigem Wasser aus den Händen rutschte, deren Inhalt sich halb über den Weißhaarigen und Ardent Rose verteilte. Erissa selbst war einen halben Schritt zurück getreten, sodass das Wasser sie nicht erreicht hatte. Ihr Blick glitt belustigt zwischen ihren beiden Gegenübern hin und her, bis sie den Blick von Ardent Rose sah. Die Piratin fand das offensichtlich absolut nicht lustig. Stattdessen wandte sie sich zu den drei Männern um, an Bord der Phoenix war es komplett still geworden. Sie begann, die Drei zusammen zu stauchen und Erissa selbst tat nichts anderes, als hämisch grinsend die Arme vor der Brust zu verschränken und sich an einen der Masten zu lehnen, vor welchem sie stand. Sie vermutete bereits, worin das enden würde und so geschah es auch. Die Schwarzhaarige ergriff einen der Männer am Kragen und schickte ihn letzten Endes kurzerhand über die Reling, wo er mit einem hohen Schrei und einem dumpfen Platschen im Wasser landete.
„Saubere Arbeit“, kommentierte Erissa nur, ehe sie ihrem Kapitän knapp zu nickte. „Bis auf die eben entstandene Pfütze ist hier alles Klarschiff und bereit abzufahren.“ Sie musste ja nicht sofort fragen, was ihr auf der Zunge lag, denn sicher würd Ardent Rose schon noch von allein auf die Idee kommen, dass die Männer hier an sich keinen festen Aufgaben zugeteilt worden waren und solche vielleicht benötigen würden, wenn sie als Crew arbeiten sollten. Aber spätestens der Mann in Weiß würde dazu wohl etwas zu sagen haben. Apropos Weiß … sein Anzug, der die gesamte Zeit keinen Flecken besessen hatte, war nun mit schmutzigem Wasser durchnässt und Erissa war gespannt darauf, ob es den offensichtlich eher reinlichen Zeitgenossen in irgendeiner Weise stören würde.
Grey Eye klopfte kurz seinen Anzug aus, auch wenn er wusste, dass es nicht viel bringen würde. Gut Aires, ich werde die am besten erstmal ein Handtuch holen. Sie nickte nur mürrisch. Im Bemühen um Fassung hatte sie die Hände zusammengeballt und wandte sich drohend zur Besatzung um. Grey Eye nutze diesen Moment, um am Mast vorbei zur Kapitänskajüte zu gehen. Aires hatte sich noch nicht eingerichtet, also würde es ihr nichts ausmachen, wenn er kurz ihr Badezimmer betrat. Als er Erissa passierte, wandte er sich mit leiser Stimme an sie. Das kann mit jedem geschehen. Ich habe es oft genug gesehen. Denk ab und zu daran Damit verschwand er schnellen Schrittes im Schiff. Zurück an Deck kam er mit einem großen Handtüch und einem wieder blütenreinen Anzug. Ersteres reichte er Aires, die begann sich abzutrocknen. Eigentlich war es im Leben eines Piraten nicht untypisch, dass man nass wurde, aber Aires mochte kein Wasser. Aus welchem Grund auch immer. Er selbst war bereits trocken und nahm seinen gewohnten Platz an Aires Seite ein. Das Gespräch zwischen ihr und Erissa war anscheinend noch nicht fortgeführt worden. Er hatte also nichts verpasst.
Aires wartete, bis Grey Eye ihr ein Handtuch brachte und sie sich das lästige Wasser von der Haut wischen konnte. Zum Glück war das meiste davon auf ihrer Kleidung gelandet, sodass es nicht allzu unangenehm für sie wurde. "Sehr gut", entgegnete sie knapp. Sie war sogar ein bisschen überrascht, dass alles so gut gelaufen war. Vor allem nach Irabellas Vorhersage hätte sie mehr Chaos erwartet. Aber die Prophezeihung hatte sich wohl eher auf die soeben geschehene Szene bezogen. "Du bist zuverlässig."
Das war mehr eine Feststellung, als ein Lob. Aber es war gut zu wissen, dass sie mit Erissa scheinbar noch jemanden neben Grey Eye hatte, der Verantwortung übernehmen konnte. Sie blickte sich zwischen den Männern um, die inzwischen emsig über das Schiff wuselten, um es abfahrbereit zu machen. Scheinbar hatte ihre kleine Demonstration gewirkt. Also durch und durch ein erflogreicher Tag. Sie musste den Männern nur noch ihre Aufgaben zuweisen. Allerdings konnte sie das nicht einfach so tun, ohne ihre Fähigkeiten zu kennen. Am Ende teilte sie jemanden für den Küchendienst ein, der sich bisher aus Dosen ernährt hatte, oder setzte jemand hinters Steuer, der nicht mal einen Kompass lesen konnte.
"Ich werde mir in den nächsten Stunden einen Überblick über eure Fähigkeiten beschaffen", sagte sie so laut, dass alle sie hörten. Einer zuckte bei ihrer einschneidenden Stimme sogar zusammen. "Wenn ihr dem Beispiel eures Freundes nicht folgen wollt, bemüht ihr Trottel euch lieber."
Sie war sich nicht ganz sicher, ob Ardent Rose ihr da wirklich eine Art Kompliment gemacht hatte, doch sie nickte nur knapp und deutete eine seltsame Verbeugung an. „Es ist mir eine Freude gewesen hier Acht zu geben“, entgegnete sie knapp und blickte dann dem Weißhaarigen nach, der verschwand um seinem Kapitän ein Handtuch zu besorgen. Dabei flüsterte er ihr kurz etwas zu, was sie nur kurz kichern ließ. Sicher war Ardent Rose eine Person mit der nicht gut Kirschen essen war aber Erissa besaß genug Selbstbewusstsein um der Meinung zu sein, dass wenn jemand auf diesem Schiff es mit der Piratin aufnehmen konnte, sie diese Person war. Nicht umsonst hatte sie bisher nichts von ihrem Stein erwähnt. Andererseits wäre dieser vermutlich ihre uneingeschränkte VIP-Karte für dieses Schiff … mehr oder weniger. Sie würde sich einen passenden Moment aussuchen, um ihrem Kapitän zu zeigen, was neben den vielen Klingen noch besonders an ihr war.
Wie erwartet weihte Ardent Rose ihre Crew kurz und knapp darin ein, dass sie sich zuerst ein Bild über die Fähigkeiten machen wollte und sie anschließend ihren Posten zuteilte. Aber zumindest eine Sache würden diese Männer wohl alle können: Ein Schiff zum Fahren bringen. Der erste Maat war zurückgekehrt und sein Anzug war ebenso weiß, wie er gewesen war bevor dieser Trottel das Wasser über ihn geschüttet hatte. Aber … er war nie im Leben lange genug weg gewesen, um sich so schnell umzuziehen. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete Erissa den Mann von ihrem Standpunkt aus mit verschränkten Armen und noch immer an den Mast gelehnt. Es gab genug Leute die die Segel setzen konnten, weshalb sie selbst sich nicht dazu berufen fühlte sich in irgendeiner Weise von ihrem Fleck weg zu bewegen.
Grey Eye lächelte, als Bewegung in die Mannschaft kam. Auch wenn er nicht unbedingt mit Aires Methoden einverstanden war, sie motivierten die Crew immer wieder. Trotzallem entging ihm nicht Erissas kritischer Blick. Er nahm ebenfalls eine Position neben dem Mast ein. Einerseits, weil er von hier aus alles im Blick behalten konnte, wie er es gewohnt war, andererseits, um sich mit der tanzenden Klinge, wie sie sich nannte, unterhalten zu können. Verzeihen sie mir, wenn ich ihren Blick falsch interpretiere, aber sie scheinen mich mit einer gewissen Skeptsis zu betrachten. Wenn sie ein Problem haben, würde ich es gerne jetzt und hier klären, bevor mitten auf dem Meer ein eisiges Schweigen zwischen uns entsteht. Das alles sagte er zwar nicht betont leise, aber er glaubte trotzdem nicht, dass Aires ihn verstanden hatte. Sie warf ihren beiden Crewmitgliedern nur einen schnellen Blick zu und wanderte dann ein Stück über das Deck, wohl um sich die Männer an zu sehen. Aber auch wenn sie sie gehört hätte, hätte sie wohl nichts dazu gesagt. Sie überließ es stets ihrer Mannschaft, die Probleme, die sie untereinander hatte, zu lösen.
Aires entfernte sich, als Grey Eye Erissa ansprach. Es interessierte sie reichlich wenig, was die beiden miteinander besprachen. Vermutlich wollte Grey Eye sichergehen, dass Erissa tatsächlich so vertrauenswürdig war, wie sie sich gab. Aires hatte nichts dagegen einzuwenden. Ein großes Schiff wie dieses konnte einen zweiten Maat gut vertragen, aber sie würde sich hüten, denn Posten zu vergeben, ohne die Mannschaft auf Leib und Nieren geprüft zu haben. Nichts destotrotz schien Erisa derzeit die beste Kandidatin.
Sie hob eine Augenbraue, als kurz vor ihr zwei bullige Kerle aneinanderstießen, weil sie beide Fässer in unterschiedliche Richtungen hatten rollen wollen. Sobald sie Aires bemerkten, zuckten sie zusammen und sprangen beiseite, um ihr den Weg freizumachen. Sie musste sich korrigieren. Erissa war wohl auch die einzige Kandidatin.
Seufzend suchte Aires sich einen Platz an der Reling, von dem aus sie das Treiben beobachten, sich aber auch zum Meer wenden und die Crew ausblenden konnte. Sie atmete die frische Seeluft ein. Der Himmel in der Ferne sah dunkel aus. Dort lag Tareph und scheinbar braute sich über der Insel ein Sturm zusammen. Sie hoffte fast, dass sie ein bisschen was davon abbekommen würden. Das dürfte schon mal zeigen, wer von ihrer Mannschaft wirklich seetauglich war.
Der Mann in Weiß gesellte sich mehr oder weniger zu Erissa, indem er sich ebenfalls an den Mast stellte, den die junge Frau als Lehne missbrauchte und erwiderte kurz ihren Blick. Ihm passte anscheinend nicht ganz, wie sie ihn ansah, weshalb er sie auch darauf ansprach. Erissa konnte nicht anders, als leise zu lachen. „Oh, ich überlege nur die ganze Zeit bereits wie du das mit dem Mantel machst“, entgegnete sie und zwinkerte ihm zu. „So rein weiß und das, obwohl du nicht die Möglichkeit hattest dich umzuziehen? Was ist das … Zauberei?“, lachte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. Dann warf sie kurz einen Blick auf Ardent Rose. „Ich kann mich nicht erinnern deinen Namen schon mal vernommen zu haben. Man nennt dich hier wohl kaum Namenloser, oder? Also ... wie darf ich dich nennen?“ Ihr Blick glitt zu ihm zurück und sie schenkte ihm ein überaus charmantes Lächeln.
Anschließend hob sie einen Zeigefinger, der ihren Gesprächspartner dazu veranlassen sollte, ihr genauestens zuzuhören. „Im Übrigen finde ich es überaus interessant, dass zwischen dir und dem Captain ein so inniges Band besteht. Was ist dein Trick … eine bestimmte Stellung? Ich bin mir ziemlich sicher, dass du im Bett gar nicht mal so schlecht bist.“ Nein, die Frage war nicht ernst gemeint, sie stichelte nur ein wenig, denn sie fand es doch ein wenig interessant, dass die Ardent Rose, die allen auf diesem Schiff eine Heidenangst einjagte, ihn irgendwie in dieser Hinsicht absolut nicht zu rühren schien. „Ein Mann wie du … wirkt nicht nur in einer Piratenkneipe fehl am Platz. Ich frage mich, was dein Beweggrund gewesen sein mag auf dieses Schiff zu kommen.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Wir Frauen können euch Männern mächtig den Kopf verdrehen und ihr euch verseht tut ihr Dinge, die ihr nie für möglich gehalten hättet.“
Grey Eye hörte der Frau aufmerksam und mit leicht gehobenen Augenbrauen zu. Als sie geendet hatte, konnte er nicht anders als laut aufzulachen. Das sind ja wirklich eine Menge Fragen. Lass mich versuchen eine nach der anderen zu beantworten. Zunächst einmal: es ist ganz einfach so, dass ich Wert auf ein... nennen wir es gepflegtes Äußeres lege, warum sollte ich also in einem schmutzigen Anzug herumlaufen? Und diesem Bemühen nach Sauberkeit entspringt ganz einfach das Erscheinungsbild in dem du mich jetzt siehst. Er breitete kurz die Arme aus. Darüber hinaus, kann ich dir versichern, dass man mich nicht umsonst den ersten Maat der Phoenix nennt Das letzte Wort betonte er besonders, denn damit sah er Erissas Frage nach seiner Anrede als beantwortet an. Seinen Namen ließ er absichtlich aus, einfach weil es ihm irgendwie Spaß machte sie im Ungewissen zu lassen. Mein Geheimnis ist, dass ich Aires nie einen Grund gegeben habe, mich über Bord zu werfen und sie vertaut, zu recht wie ich behaupten möchte, auf meine Fähigkeiten. Du kannst auch versichert sein, dass es nicht ihre schönen Augen waren, die mich zu der Entscheidung geführt haben Pirat zu werden. Schon bevor ich vor fünf Jahren dieser Crew beitrat, habe ich als Gesetzloser gelebt. Ich habe einfach nur eine Chance, die sich mir bot, wahrgenommen, als ich mich Ardent Rose anschloss. Zwar lächelte er die ganze Zeit, während er das sagte, doch für einen Moment hatte er ein seltsam ungutes Gefühl. Es waren zwar nicht Aires schöne Augen gewesen, die ihn dazu bewegt hatte Pirat zu werden, aber hin und wieder waren sie der Grund gewesen, warum er sich entschloss einer zu bleiben.
Sie wusste nicht ganz, ob sie es jetzt als Beleidigung auffassen wollte, dass der erste Maat ihr seinen Namen nicht verriet. Letzten Endes tat sie es jedoch mit einem Lächeln ab und meinte stattdessen: „Aber du findest ihre Augen schön, das sagt viel über einen Mann aus.“ Und sie musste es ja wissen. Gleichsam erfuhr sie dank ihm zwar nicht seinen Namen, dafür aber den echten Namen von Ardent Rose, eine Information, mit der sie sicher irgendwann einmal etwas anfangen konnte, weshalb Erissa sie in den Tiefen ihrer Erinnerung vergrub. „Deine Fähigkeiten also? Dann habe ich ja vielleicht ganz gute Chancen es in dieser Crew zu etwas zu bringen“, grinste sie und drückte sich von dem Mast ab. Kurz deutete sie so etwas, wie eine Verbeugung an, ehe sie sich abwandte. „Vielen Dank für dieses Gespräch, erster Maat. Es war sehr interessant zu erfahren, dass ihr eine wohl etwas längere gemeinsame Vergangenheit habt.“ Ebenfalls eine Information, die in gewisser Weise sicher nützlich werden konnte. Und an seinen Namen würde sie auch noch irgendwie herankommen, spätestens wenn Ardent Rose … Aires ihn beim Namen rief.
Gerade wollte Erissa unter Deck gehen, da hielt sie noch einmal kurz inne und trat stattdessen an die Reling, wo ihr Kapitän stand und aufs Meer sah. „Es sieht so aus, als würde ein Sturm aufkommen. Mit etwas Glück bekommen wir noch ein bisschen was davon mit“, meinte sie, ehe sie sich neben der Frau an die Reling lehnte, mit dem Rücke zum Meer, sodass sie von ihrer Position aus zu dem Weißhaarigen hinüber schauen konnte. Sie liebte den Wind und Stürme waren genau das richtige für sie. Es gab kaum etwas schöneres, als während eines Sturms auf dem Meer zu sein.
Aires hob eine Augenbraue, als Erissa zu ihr kam. Ja, die junge Frau schien definitiv anders zu sein, als der Rest der Mannschaft. Sie musterte Erissa eingehend, bevor sie antwortete. "Es wäre nicht verkehrt, die Männer bei einem Sturm zu erleben. Da wird sich die Spreu vom Weizen trennen." Ein amüsiertes Lächeln umspielte ihre Lippen. "Das dürfte interessant werden."
Aires folgte dem Blick Erissas. Sie schaute zu Grey Eye. Ebenfalls interessant war es, dass die beiden sich unterhalten hatten. Sie schienen sich nicht unbedingt sofort angefreundet zu haben, echte Feindschaft hatte sich aber auch noch nicht entwickelt. Eher ein kritisches Beäugen, so wie Aires es einschätzte. "Was hältst du von ihm?", fragte sie und deutete auf Grey Eye. Einfach weil sie wissen wollte, ob ihre Einschätzung stimmte. Sie würde Grey Eye nachher dasselbe fragen, denn momentan war Erissa wirklich ihre erste Wahl für den posten des zweiten Maates.
Sobald Erissa gegangen war, wendete sich Grey Eye wieder der Crew zu. Es schien so weit alles gut zu gehen, die meisten der Männer hatten anscheinend Erfahrung beim Führen eines Schiffes. Am Horizont hatten sich Gewitterwolken gesammelt, schwer und grau hingen sie tief am Himmel. Das bedeutete, dass es sehr bald schon Regen und einen Sturm geben würde. Tatsächlich hatte auch schon Wind aufgeflaut. Die Luft fuhr Grey Eye durch Haare und Kleidung. Er warf einen kurzen Blick über die Schulter und sah, dass sich Erissa nun mit Aires unterhielt. Er verschwendete jedoch keine weitere Zeit damit das Geschehen zu beobachten, zum einen, weil es ihn nichts anging-und er hatte gelernt sich aus solchen Dingen herauszuhalten- zum anderen, weil er die Mannschaft im Auge behalten musste, um später im Gespräch mit Aires eine fundierte Meinung zu haben, vorallem was die Aufgabenverteilung anging. Trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, dass die beiden Frauen ihre Aufmerksamkeit auf ihn konzentriert hatten. Ein stärkerer Wind kam auf und die Wolken zogen bedrohlich näher, gleich würde der Sturm anfangen.
„Das wird ganz sicher interessant“, nickte Erissa und schmunzelte leicht. Ardent Rose wollte das Verhalten der Männer während des Sturms beobachten und sicher würde das eine Menge über jedes einzelne Crewmitglied aussagen. „Und das praktischste daran ist: Wenn einer von ihnen für das Leben auf der rauen See ungeeignet ist schmeißt der Sturm ihn von Deck. Das erspart eine Menge Arbeit beim Aussortieren.“ Sie wirkte nicht nur selbstsicher, sie war es auch. Dass ihr so ein Sturm nichts ausmachen konnte wusste sie zu 100% und die anderen würden es auch bald mitbekommen.
Ihr Blick war Erissas gefolgt, die noch immer in die Richtung des ersten Maats blickte. „Er … ist recht interessant. Und sieht gut aus“, lachte sie. Dann wurde ihr Blick etwas ernster. „Er weiß sich auszudrücken, wirkt absolut nicht wie jemand der in dieses Leben hineingehört und doch hat er etwas an sich, was einen glauben lässt er hätte nie etwas anderes gemacht. Ich denke, dass er als erster Maat eine sehr gute Entscheidung ist.“ Nicht zuletzt deswegen, weil er vermutlich eher die Ruhe behielt, als sein Kapitän und im Notfall vielleicht sogar dazwischen gehen konnte …
Über ihnen zogen die Wolken sich stärker zusammen und der Wind zerrte stärker an den Haaren der Frauen. Ein Gefühl, bei dem Erissa am liebsten die Augen geschlossen und sich in die Luft erhoben hätte. Aber das durfte sie hier noch nicht tun. Ihr Blick ging nach oben, worauf ein einzelner Tropfen auf ihrer Nase landete und sie kurz zusammen zucken ließ. „Da kommt er.“
Unweigerlich musste sie kurz gehässig auflachen. Ja, das stimmte wohl. Wer es bei einem starken Sturm nicht schaffte, sich richtig festzuhalten, würde über Bord gehen, ohne dass Aires viel dazu beitragen musste. Sie freute sich darauf, auch wenn natürlich zu hoffen war, dass die Männer sich als tauglich erwiesen. Sonst konnten sie nach dem Abflauen des Sturms gleich zurück in den gehängten Mann und eine neue Crew auflesen, wenn sich diese hier zu sehr veringerte.
Auch bei Erissas Einschätzung über Grey Eye konnte sie nichts anderes als zu nicken. Gerade heute war ihr noch einmal vor Augen geführt worden, wie wahr Erissas Worte waren. Grey Eye gehörte nicht wirklich hier her, aber trotzdem war er am unentbehrlichsten von allen. Die Bemerkung, dass Grey Eye gut aussehe, ließ sie die Stirn runzeln. Kam es für Erissa denn auf sowas an? Aires bezweifelte, dass sich der Wert eines ersten Maates in seinem Äußeren ermessen ließ. Sie musterte Grey Eye. Abgesehen davon hatte sie sich noch nie Gedanken darüber gemacht, nach welchen Standards man ihn nun als attraktiv bezeichnen konnte. Sie verschwendete ihre Zeit immerhin nicht mit solchen Lapalien. Solange er seine Aufgaben gut erfüllte, konnte er ihretwegen auch ein hutzeliges kleines Männchen in einem quietschpinken Anzug sein. "Das ist eine gute Einschätzung", sagte sie schließlich. "Ärgre ihn bloß nicht zu sehr, er kann ungebührliches Verhalten nicht ausstehen." Normalerweise mischte sie sich nicht in die Geschicke der Crew ein, aber es schien ihr aus einem unerfindlichen Grund wichtig, dass die beiden miteinander auskamen. Sie hatte bei Erissa so dass Gefühl, dass sie ihnen noch einiges nützen würde.
Auch sie legte den Kopf in den Nacken und blickte hoch in die dunklen Wolken. Der regen setzte ein und sie verzog kaum merklich das Gesicht. Von Wasser hatte sie heute schon genug gehabt. "Außerdem hat Grey Eye die Mannschaft gut im Griff. Ich werde mich in meine Kajüte zurückziehen." Sie stieß sich von der Reling ab und passierte Grey Eye. "Behalt die Männer im Auge. Ich ziehe mich zurück." Sie beeilte sich, ins Trockene zu kommen, bevor der Regen so richtig loslegte.
Grey Eye nickte nur, als Aires an ihm vorbei eilte. Wie üblich bei Regen, hatte er das Kommando an Deck. Manchmal fragte er sich, warum Aires bei solchen Wetterlagen das Weite suchte, sie hatte ganz bestimmt keine Angst vor Gewittern. Als sie mit diesem Verhalten begann, hielt er dieses ganze Phänomen noch für einen Zufall, aber inzwischen hatte er eine gewisse Regelhaftigkeit darin erkannt. Ab und zu war er versucht gewesen, sie zu fragen, immerhin hatte sie das früher noch nicht getan, aber in diesen Momenten wurde er das Gefühl nicht los, als könnte es... gefährlich werden. Als verbarg sich hinter dieser Merkwürdigkeit ein geheimes Thema, an das er nicht rühren durfte.
Wie auch immer, dachte er und wendete sich wieder verstärkt seiner eigentlichen Aufgabe zu. Er beobachtete die Männer, versuchte einzuschätzen für welche Aufgaben sie wohl besonders geeignet waren. Während sein Blick so wanderte, fiehl ihm Erissa ins Auge.
Sie stand an der Reling, wo sie sich mit Aires unterhalten hatte, ihr Gesicht in den Regen geregt und lächelte. In diesem Moment wurde Grey Eye klar, dass von ihr eine seltsame Energie ausging, etwas, das er lieber ignoriert hätte. Es erinnerte ihn an das Gefühl, dass er hatte, wenn er etwas für Aires "geheimes Thema" hielt. Doch es war nicht stark genug, um sein Misstrauen zu wecken. Vielleicht, war aber auch einem Teil von ihm klar-einem versteckten, instinktiven Teil- dass er sich lieber von dieser Energie fernhalten sollte.
Ardent Rose wechselte nur knapp noch ein paar Worte mit ihr, ehe sie von Deck verschwand. Etwas verwirrt blickte Erissa ihr nach, dachte sich jedoch nicht mehr davon. Solange der erste Maat da war gab es jemanden, der die Männer beobachtete. Und vielleicht würde der Kapitän ja nochmal zurückkommen, wenn der Sturm richtig losgelegt hatte. Nun gut, dann wollte Erissa sich mal an die Arbeit machen. Sie stieß sich schwungvoll von der Regel ab und gesellte sich zu ein paar der Männer, die etwas ratlos da standen und nicht ganz zu wissen schienen, was sie mit sich anfangen sollten. „Wir müssen die Segel einholen, ihr Idioten!“, rief Erissa und rauschte an ihnen vorbei zu den Tauen, um daran zu ziehen. Den Männern schien plötzlich wieder einzufallen, wie man ein Schiff bei einem Sturm zu verwalten hatte und eilten zu ihr, um ihr dabei zu helfen die mächtigen Segel einzuholen. Dann suchten sie alle sich feste Taue, um sich daran festzubinden, ehe sie weiter über das Deck wuselten. Der Wind hatte mittlerweile mächtig zugenommen und der Regen war zu einer halben Sintflut geworden. Erissa war bis auf die Haut durchnässt aber das war ihr mächtig egal. Der Wind heulte und Blitze zuckten und Donner grollte über den Himmel, während die Phoenix in hohem Tempo unter diesen hindurch von den Wellen auf und ab getrieben wurde.
So ganz konnte die Schwarzhaarige sich ein Lachen nicht verkneifen, als sie eine hohe Welle sah, die auf das Schiff zuraste und sich an ihm brach. Einer der Männer, dessen Seil offensichtlich nicht gut genug geknotet worden war, wurde von dem Wasser erfasst und von Deck geschleudert. Da waren es schon zwei Männer weniger auf diesem Schiff. Da sie nur den Rand des Sturms miterlebten, ging Erissa davon aus, dass er recht schnell wieder vorbei sein würden, allerdings war er dafür umso stärker. Sie hatte gar nicht erwartet, dass er so extrem wüten würde.
Aires verweilte solange in ihrer Kajüte, bis das monotone Trommeln des Regens allmählich abebbte. Sie saß seelenruhig auf ihrer Koje, während das Schiff um sie herum schaukelte, und störte sich auch nicht daran, dass gelegentlich ein paar Bücher umkippten oder Flasche herunterfiel und über den Boden davonrollte. Sie wartete einfach geduldig, bis das lästige Wasser verschwwunden war und hoffte, dass zumindest der Wind noch ein wenig anhalten würde. Erissa hatte Recht, ein Sturm auf See war etwas Wundervolles, weswegen es ihr ziemlich auf die Nerven fiel, dass sie bei Regen nicht ohne Schmerzen draußen herumlaufen konnte.
Sie machte sich sofort auf den Rückweg an Deck, als das Geräusch der dicken Tropfen endlich versiegte. Zu ihrer Erleichterung tobte der Sturm tatsächlich noch und in der Ferne waren Blitze zu sehen. Vermutlich erlebten die Bewohner von Zalenia das eigentliche Unwetter, während sie zumindest die Gewitterwolken bereits überstanden hatten. Aires trat vergnügt nach draußen und musterte ihre Männer, die überall herumschwirrten. Keiner von ihnen schien den Sturm wirklich zu genießen, aber zumindest war der ein oder andere dabei, der aussah, als wisse er, was er tat.
Erissa schien sich köstlich zu amüsieren, während Grey Eye wie immer mit ungerührter Miene zusah und alles beobachtete. Sie ging zu ihm herüber und achtete darauf, sich so hinzustellen, dass vom Mast kein Wasser auf sie tropfte. "Ich habe lange keinen anständigen Sturm mehr erlebt", sagte sie zufrieden. Beziehungsweise sie brüllte es mehr, denn durch den heulenden Wind musste sie die Stimme erheben. Ihr Blick wanderte hinüber zu Erissa, die augenscheinlich nicht nur den Sturm in vollen Zügen genoss. Nein, die junge Frau hatte doch tatsächlich das Kommando übernommen. Irgendwie zumindest, die sie scheuchte die Jungs ziemlich durch die Gegend und rief ihnen gelegentlich eine Anweisung über den Wind hinweg zu, wenn sich einer von ihnen allzu dumm anstellte. "Erissa. Was hältst du von ihr?"
Der Wind, der vom Sturm übriggeblieben war, hatte eine solche Kraft inne, dass er unangenehm gegen sein Trommelfell drückte und so die wenigen verbliebenen Töne noch zusätzlich abdämpfte. Grey Eye musste sich konzentrieren, um Aires zu verstehen. Mit einiger Mühe erschloss er, was sie ihn fragen wollte und folgte ihrem Blick. Nun war es an ihm zu schreien. Nun Aires, ich denke, dass sie uns durchaus von Nutzen sein kann. Aber ich muss auch sagen, dass es mir etwas... ungewöhnlich erscheint, dass sie bereits dabei ist sich ein Kommando aufzubauen. Mit einer ausschweifenden Geste deutete er auf Erissa und ihr Tun und Treiben. Vielleicht haben wir sie zu sehr ermutigt. Aber um ehrlich zu sein ist da noch etwas anderes, was mich stört. Er machte eine Pause, zum einen um noch einmal Atem holen zu können, zum anderen um die richtigen Worte zu finden. Er wusste nicht, wie er Aires begreiflich machen konnte, was er fühlte. Es gibt da etwas... Aber ich glaube ich habe es vergessen. Irgendetwas an Erissa war... oder ist... Sie hat mich an irgendetwas erinnert. Wir sollten trotzallem vorsichtig bei ihr sein. Er sah Aires an, die ihr Gesicht in den Wind gereckt hatte. Er konnte nicht sagen, ob sie immer noch zu Erissa hinüber sah oder ob sie in Gedanken versunken nachdachte.
Kopfschüttelnd sah die Schwarzhaarige einem weiteren Mann nach, der laut schreiend von den Wellen verschluckt wurde. Sie machte sich nicht einmal die Mühe „Mann über Bord!“ zu rufen. Es würde sowieso niemanden interessieren. Wenn das so weit ging, würde die Crew sich bis zum Ende des Sturms halbiert haben. ‚Was für Idioten. Und die schimpfen sich ernsthaft Piraten?‘ Ihr Hauptberuf war nie der einer Piratin gewesen, doch sie konnte sich zumindest während eines Sturms auf einem Schiff halten. Andererseits hatte sie auch ihre Kräfte, die sie vor dem mächtigen Wind weitestgehend schützten. Der Regen war verschwunden, mittlerweile heulte nur noch der Sturm um sie herum, während die dicken Gewitterwolken nun viel mehr drohend über Zalenia hingen. Die Dorfbewohner erlebten soeben wohl eines der stärksten Gewitter dieses Jahres. Erissas Blick wanderte von der Insel weiter, bis er auf den für sie namenlosen Weißhaarigen fiel. Mittlerweile war er nicht mehr allein, Aires stand bei ihm und sie unterhielten sich über den Sturm hinweg miteinander. Kurz sammelte Erissa ihre Gedanken und lauschte dann angestrengt dem Wind, der die Worte der beiden an ihr Ohr trugen. Klar und deutlich vernahm sie, wie die Piraten sich über sie unterhielten. Zumindest sprach Grey Eye gerade davon, dass etwas an ihr ihn an irgendetwas erinnerte. Ein seichtes Grinsen huschte der Schwarzhaarigen über die Lippen. Dieser Mann ahnte etwas, doch konnte er es nach eigener Aussage nicht zuordnen. Die beiden würden schon noch früh genug erfahren, worin Erissas ganz besonderen Fähigkeiten lagen, doch das hatte noch Zeit. Sie würde es im äußersten Notfall offenbaren.
Aires hörte sich Grey Eyes Worte ruhig an und ließ Erissa dabei nicht aus den Augen. In der Tat, sie schien sich in ihrer "Führungsrolle" schon sehr wohl zu fühlen, ohne dass ihr diese irgendjemand zugeteilt hatte. Das Mädchen wusste schienbar, was sie wollte. An sich keine schlechte Eigenschaft, aber es würde sich noch zeigen, inwieweit sie so etwas hier gebrauchen konnten.
Sie runzelte jedoch die Stirn, als Grey Eye anmerkte, Erissa würde ihn an irgendetwas erinnern. "Mich erinnert sie an niemanden", meinte Aires achselzuckend. "Woran auch. Sie scheint ein ganz eigenes Kaliber zu sein, aber vielleicht schafft sie es dadurch, die Inkompetenz der Idioten auszugleichen, die wir uns hier angelacht haben. Ich befürchte, wenn es mit dem Wetter so weitergeht, werden wir am Ende des Sturmes sowieso nur noch Erissa haben. Dann hat sich die Frage nach dem zweiten Maat von vornherein erübrigt."
Grey Eye war nicht verwundert, dass Aires ihn nicht verstand, aber einiger Maßen enttäuscht, dass es so war. Er warf einen scharfen Blick hinüber zu Erissa. Irgendetwas an ihr erschien ihm eigenartig und er beschloss sie im Auge zu behalten, vorallem jetzt, da Aires so sorglos mit ihr umzugehen schien.
Er startete noch einen letzten Versuch seinem Käpten klar zu machen, was er meinte. Es ist nicht so, begann er. dass sie mich an jemanden erinnert... sondern eher an irgendetwas. Es ist schwer zu erklären. Jedenfalls hoffe ich, dass du ihr nicht zu sehr vertraust. Wir sollten kritisch ihr gegenüber bleiben, denn auch wenn wir sie an Bord vielleicht gut gebrauchen können, wissen wir doch sehr wenig über sie. Und meiner Meinung nach hat sie noch nicht genug getan, um ihre Loyalität zu beweisen.
Noch einmal sah er Erissa an. Der Sturm hatte sie ein wenig zurückgeworfen, aber in ein oder zwei Tagen würden sie ihr Ziel erreicht haben. Dann würde sie Gelegenheit haben, ihren wahren Wert zu zeigen.
In dem Moment, als der Blick des Weißhaarigen auf sie fiel, lenkte Erissa ihre Augen aufs Meer hinaus, ihre Sinne blieben jedoch geschärft. Ja, der Posten des zweiten Maats war ihr so gut wie gewiss. Die restlichen, inkompetenten Crewmitglieder hatten im Großen und Ganzen mehr Muskeln, als Hirn und auch wenn solch eine Eigenschaft auf dem Meer meist schon ausreichte, so reichte sie doch nicht um eine höhere Position auf einem Schiff wie diesem hier einnehmen zu können. Erissa hatte bereits so viel von dem gehört, was die Crew der ehemaligen Phoenix alles angestellt hatte und sie wollte das, was noch geschehen würde mit eigenen Augen sehen – koste es, was es wolle. Und von wo ließ es sich am besten beobachten, als an der Seite des Kapitäns höchstpersönlich? Sie war sich darüber im Klaren, dass Aires sie niemals so nah an sich lassen würde, wie sie es bei dem Weißhaarigen tat, doch so viel Nähe wollte die Söldnerin auch gar nicht zu der Piratenkaiserin aufbauen. Es überraschte sie ohnehin, dass Aires dazu in der Lage war überhaupt jemandem über so lange Zeit so intensiv zu vertrauen, wie sie es bei ihrem ersten Maat ganz offensichtlich tat. Aber das war etwas, worüber es nachzudenken nicht lohnte. Stattdessen stieß Erissa sich mit einem leisen Seufzer und einem Kopfschütteln von der Reling ab, gerade als einer der Männer an ihr vorbei stolperte und beinahe über das Gerüst in die Wellen flog.
Startseite 
![Ardent Rose | Phoenix II [Kapitän]](https://2img.net/h/img5.fotos-hochladen.net/uploads/pkaisert2vp4ohzfg.png "Ardent Rose | Phoenix II [Kapitän]")
